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Weihnachten bringt neues Glück *
-       von Ferdinand Hefemer    -
   
Es war das Jahr 1957. Wendelin Emmerich schleppte sich von Dilsbergerhof kommend mühsam den Alten Hofweg entlang. Mit seinem steifen rechten Bein konnte er nur gehen, indem er sein ganzes Körpergewicht auf das linke Bein stützte, dann das rechte nach vorne schleuderte, um dann sein Körpergewicht wieder auf das rechte Bein zu verlagern. Diese Art zu gehen kostet viel Kraft und benötigte viel Zeit. Und jetzt, da noch etwas Schnee lag, musste er noch besonders vorsichtig gehen. Wendelin hatte sich aber vorgenommen heute am Heiligen Abend die Christmette zu besuchen, auch wenn ihn niemand vom Dilsbergerhof dorthin fuhr.  

Wendelin lebte, nachdem sein Arbeitslosengeld ausgelaufen war, von Sozialhilfe. Er hatte aber das Glück, dass er seit drei Jahren beim Bauern Gaier in Dilsbergerhof in einem kleinen Zimmer im Scheunengebäude kostenlos wohnen konnte. Dafür übernahm er kleinere Arbeiten auf dem Hof. Eine Aussicht auf irgendeine Arbeitsstelle in seinem erlernten Beruf als Schreiner hatte er mit seinen nunmehr 55 Lebensjahren und seiner Behinderung nicht mehr. Das sagte ihm sein Sachbearbeiter vom Arbeitsamt jedes Mal, wenn er dorthin kam. Eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die ohnehin ganz gering wäre, ist auch schon mehrmals abgelehnt worden. Und weil er so arm geworden war, traute Wendelin sich auch kaum unter die Leute. Heute aber wollte er in der Gemeinschaft der Kirchgänger etwas von der Weihnachtsfreude in der Christmette erleben.
   
W Geschichte01 Nach einer Stunde hatte er schließlich schweißüberströmt die Kirche erreicht. Die Glocken waren schon verstummt. Er fand noch ein Plätzchen in der hintersten Bank. Der Chor sang „Ich steh an deiner Krippe hier…“. Der Pfarrer beschrieb mit wundervollen Worten die Freude über die Geburt Jesu. Als die Bläser des Musikvereins „Der Heiland ist geboren…“ intonierten, kämpfte Wendelin mit seinen Tränen. Das alles klang so wundervoll und ganz anders als aus dem alten Radio, das in seinem Zimmer stand. Und als schließlich die versammelte Gemeinde bei reinem Kerzenlicht mit lauten Stimmen das „Oh du fröhliche…“  anstimmte, ließ Wendelin seinen bisher verschluckten Tränen ihren Lauf. Er empfand Freude und Wehmut zugleich.
 
Zum gewaltigen Ton der Orgel verließ Wendelin noch ganz gerührt die Kirche. Der Pfarrer wünschte ihm an der Tür ein frohes Weihnachtsfest und dann stand er auf der Kirchenterrasse und blickte auf das inzwischen noch mehr verschneite aber friedlich vor ihm liegende Neckartal.
Mühsam stieg er den Kirchenweg hinunter, um sich wieder auf seinen langen und inzwischen ziemlich rutschigen Heimweg zu begeben. Als er die letzten Stufen nahm, überholte ihn ein ihm unbekannter Herr in Pelzmantel und breitkrempigem Hut. Der war ihm zuvor schon aufgefallen, weil ihn viele der Dilsberger ganz aufmerksam und zum Teil auch ehrerbietig begrüßt hatten. Als er schließlich auf der Straße angekommen war, blieb der vornehme Herr vor ihm stehen, wandte sich um und fragte ihn: „Kann ich Sie nachhause bringen? Ich bin mit meinem Wagen da und sehe, dass sie nur beschwerlich gehen können.“ Wendelin stotterte verblüfft: „Ja, danke, aber ich wohne in Dilsbergerhof. Dorthin fahren Sie sicherlich nicht.“ Ohne zu zögern entgegnete der Herr: „Eigentlich nicht, aber für Sie fahre ich gerne einen Umweg. Warten Sie hier einen Augenblick. Ich hole meinen Wagen. Der steht hinter der ‚Schönen Aussicht‘.“
    
Wendelin wartete geduldig und dachte: „Hoffentlich kommt jetzt ein Auto, in dem ich mein steifes Bein unterbringen kann.“ Kaum war der Gedanke verflogen, tauchte ein riesiges Auto vor ihm auf: Ein Mercedes 300, ein Fahrzeugtyp, mit dem auch Bundeskanzler Adenauer chauffiert wurde. Der Herr stieg aus und öffnete ihm die Beifahrertür, wie ein Chauffeur seinem Herrn.  Zuvor hatte er noch den Beifahrersitz ganz nach hinten geschoben, damit Wendelin sein steifes Bein gut unterbringen konnte.
 
Wegen des Schneefalls schlich die Limousine langsam und fast geräuschlos die Neuhofer Straße hinunter, hinein in die Langenzeller Straße. Am Ortsschild des Dilsbergerhofes sagte der bis dahin aus Verlegenheit stumme Wendelin: „Hier können sie mich rauslassen. Den Rest kann ich gut zu Fuß gehen.“ „Wenn schon, denn schon“ erwiderte der Herr. „Sagen Sie mir in welchen Hof ich reinfahren soll.“ Wendelin wies ihm den Weg. Als sie in den Gaierschen Hof einbogen, gingen die Vorhänge der ganzen Nachbarschaft auf. Alle waren neugierig, was da für ein Auto vorfuhr und wer wohl aus einem solch noblen Wagen stieg. Aber die Verwunderung der Leute wurde größer, als sie sahen, dass ein fein gekleideter Herr ausstieg, die Beifahrertür öffnete und Wendelin aus dem Wagen half. „Das gibt’s doch nicht, das gibts doch nicht“, murmelte die alte Witwe Gaier, die als erste am Fenster war.  
  
Wendelin verbeugte sich und bedankte sich überschwänglich bei dem Herrn, der sich kurz vorstellte: „Ich bin übrigens Sebastian Kramolisch und in der Rainbach aufgewachsen.“ Da musste auch Wendelin seine Identität offenbaren: „Mein Name ist Wendelin Emmerich. Ich bin nach dem Krieg hierhergekommen. Haben sie ganz herzlichen Dank. Es war für mich ein außerordentliches Weihnachtsgeschenk, dass Sie mich nach Hause gebracht haben und das noch mit einem Wagen, den ich nur von Zeitungsbildern kannte.“ „Und für mich war es eine gute Tat, die man als Pfadfinder mindestens einmal am Tag erbringen sollte“, ergänzte Herr Kramolisch. Die beiden Männer drückten sich noch einmal die Hand und dann rauschte der Mercedes leise aus dem Gaierschen Hof Richtung Rainbach.
Als Wendelin sich anschickte, die letzten Schritte zu seinem Zimmer im Scheunengebäude zu machen, waren alle Fenster ringsum hell erleuchtet und voller neugieriger Menschen.
  
Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages, als Wendelin das Holz in seinem kleinen Ofen anzündete, seinen Malzkaffee trank, in den er ein Stück Brot eintunkte, fiel ihm ein, dass es ja heute noch einmal ein besonderes Mittagessen geben würde. Er hatte von Gaiers ein großes Stück Schinken geschenkt bekommen und davon wollt er einige Scheiben zusammen mit ein paar Kartoffeln auf dem Ofen anbraten. Auf diesen Genuss freute er sich schon jetzt. Dann setzte er sich in den alten zerschlissenen Sessel, den er aus einem Nachlass geschenkt bekommen hatte und las bis zum Mittag die letzten Zeitungen, die ihm wie immer von Gaiers überlassen worden waren.
 
Gegen halb zwölf Uhr hörte er auf einmal ein Motorengeräusch im Hof. Neugierig schaute er aus dem Fenster. Da stand schon wieder der große Mercedes. Wo Herr Kramolisch wohl heute hinwollte? Wendelin beobachtete ihn neugierig. Herr Kramolisch klingelte bei Gaiers und sprach dann kurz mit dem Hausherrn, der auf Wendelins Behausung zeigte. Nun erschrak er richtig. Was wollte der Kramolisch von ihm. Hatte er vorgestern Abend etwas vergessen oder etwas falsch gemacht? Er öffnete die Tür und ließ verschämt den vornehmen Herrn in seine bescheidene Behausung eintreten. Herr Kramolisch kam sofort zur Sache: „Sie haben mich gestern mit Ihrer Energie, die Sie gezeigt haben, sehr beeindruckt. Deshalb möchte ich mit Ihnen etwas besprechen. Das machen wir am besten in einer angenehmen Atmosphäre, nämlich bei einem Essen in der Rainbach. Kommen Sie mit?“
 
Wendelin war fast erstarrt. Er sollte mit Herrn Kramolisch zu Marius Seibel essen gehen? Der Marius warf ihn doch eher raus, wenn er ihn, den Hungerleider in seinem noblen Restaurant sah. Aber Wendelin traute sich nicht seine Bedenken zu äußern, sondern antwortete ganz kleinlaut: „Wenn Sie meinen!“
 
Sie fuhren schweigend nach Rainbach. Als sie beide aus dem Wagen ausstiegen, stand Marius Seibel gerade unter der Eingangstür und begrüßte einige Gäste. Als der den noblen Mercedes mit einem Hamburger Kennzeichen erblickte, erinnerte er sich an die Erzählung einiger Rainbacher, dass sein alter Schulkamerad Kramolisch es in Hamburg zu etwas gebracht hätte. Aber als er aus der Beifahrertür den Knecht vom Hefemer Gaier aussteigen sah, da war er doch sehr konsterniert. Auf diese seltsame Personenkonstellation konnte er sich keinen Reim machen.
 
Als die beiden Männer auf die Gasthaustür zusteuerten und eintreten wollten, versichert sich Seibel – noch bevor er seinen Schulfreund richtig begrüßt hatte - mit den Worten „Ist das wirklich Dein Gast?“, dass er nicht auf den Verzehrkosten des armen Schluckers Wendelin Emmerich sitzen blieb. Dann versuchte Herr Seibel sogleich dieses ungleiche und ihm unheimliche Paar ins Nebenzimmer zu lotsen, damit ja keine peinlichen Situationen entstehen sollten. Aber er hatte Kramolisch wohl falsch eingeschätzt. Der trat nahe an Marius Seibel heran und äußerte schließlich in ruhigem, aber sehr bestimmtem Ton: „Wir beide sitzen an den großen runden Tisch, an dem sonst immer die Professoren und Fabrikbesitzer sitzen; und wenn ich dafür sechs Portionen bezahlen muss. Ist das klar?“ Da drehte sich der Wirt wortlos um und wies die Bedienung an, zwei Gedecke an den runden Tisch zu bringen.
 
Nach einer eigentlich schon beantworteten Rückfrage an Wendelin  „Essen wir zusammen eine Wildplatte und davor eine von den berühmten Hochzeitssuppen von Frau Seibel“, gab Herr Kramolisch die Bestellung auf und ließ sich die Weinkarte bringen. Er fragte Wendelin noch, welchen Wein er trinken wolle. Aber der antwortet nur: „Ich trinke den, den auch Sie trinken.“
 
Noch bevor das Essen kam, brachte die Bedienung zum Erstaunen der beiden Gäste mit den Worten „ein Gruß vom Chef, auf Kosten des Hauses,“ zwei Gläser Sekt an den Tisch. Irgendwie hatte dieser verstanden, dass es wohl ungünstig sein könnte, einen offensichtlich reich gewordenen Schulkameraden zu verprellen, nur weil der einen seltsamen Gast mitgebracht hatte.
 
Nach dem sie mit dem Sekt angestoßen hatten, erzählte Herr Kramolisch kurz seine Lebensgeschichte: „Mein Vater kam versehrt aus dem ersten Weltkrieg und war Lehrer an der Schule in Neckargemünd. Wir, meine zwei Geschwister, meine Mutter und ich wohnten in einem kleinen Hinterhäuschen in der Rainbach. Ich habe zuerst die „höhere Schule“ auf dem Dilsberg und dann das Kurfürst-Friedrich-Gymnasium in Heidelberg besucht. Nach meinem Studium der Betriebswirtschaft in Hamburg fand ich eine Anstellung bei einer privaten Reederei. Weil ich dort unabkömmlich war musste ich nicht Soldat werden. Inzwischen bin ich Teilhaber dieses Unternehmens. - Und Sie, wie kamen Sie auf den Dilsberg? Hat man Sie nach einer Kriegsverletzung hier eingewiesen?“ „Nein“, antwortete Wendelin. „Ich kam nach meiner Kriegsgefangenschaft in Frankreich zu meiner Mutter hierher. Sie hatte zusammen mit drei meiner Geschwister als Vertriebene eine kleine Wohnung in Dilsberg gefunden. Ich bin von Beruf Schreiner und fand dann ziemlich schnell eine Anstellung in einer Möbelfabrik in Heidelberg. Nach meiner Heirat wohnte ich im Pfaffengrund, wo ich zwei Jahre blieb.
  
Dort habe ich eines Tages in einer Sauflaune das Motorrad eines Kollegen für eine Spritztour ausgeliehen. Mit der Maschine bin ich in Schwetzingen auf einer nassen Straßenbahnschiene ausgerutscht und schwer gestürzt. Dabei wurde mein rechtes Bein mehrmals gebrochen, mein Knie zerstört und ich habe drei Finger meiner rechten Hand verloren. Ich lag acht Monate in der „Knochenmühle“ in Schlierbach, weil es verschiedene Wundinfektionen gab, die kaum in den Griff zu bekommen waren. Mittlerweile hatte meine Frau einen anderen Mann kennengelernt, ist zu diesem gezogen und hat unsere gemeinsame Wohnung einfach aufgelöst. Da blieb mir nichts anderes übrig, als zu meiner inzwischen alleinstehenden Mutter auf den Dilsberg zu ziehen. Nach deren frühem Tod konnte ich die Wohnung nicht mehr halten und bin nun froh, die Bleibe bei Gaiers gefunden zu haben. Eine Aussicht auf einen Arbeitsplatz habe ich wohl nicht mehr. So lebe ich eben etwas einsam und bescheiden für mich und bin dankbar, dass ich mich bei Gaiers noch etwas nützlich machen kann.“
  
W Geschichte02 Mittlerweile war die berühmte Seibelsche Suppe eingetroffen. Wendelin genoss sie. So etwas Gutes hatte er schon lange nicht mehr gegessen. Nachdem die Flasche Kaiserstühler Spätburgunder Spätlese geöffnet war, setzte sich Herr Kramolisch auf, um zur Sache zu kommen: „Ich habe Sie eingeladen, um ihnen ein Angebot zu machen:
Ich habe inzwischen ein Anwesen im Norden Hamburgs an der Elbe erworben. Das besteht aus einem eingefriedeten Gelände mit einem großen Haus - manche sagen auch Villa dazu - und einem kleinen Pförtnerhäuschen am Eingangstor. Als ich Sie gestern gesehen habe, dachte ich daran, Ihnen die Stelle als Pförtner und Hausmanager anzubieten. Sie sollten in dem Pförtnerhäuschen wohnen, das über zweieinhalb Zimmer und eine Küche verfügt. Keine Angst, ich erwarte keine großen handwerklichen Leistungen von Ihnen. Ich möchte nur, dass Sie die anfallenden Arbeiten in Haus und Garten organisieren und koordinieren. Allerdings hätte ich die Bitte, dass sie sich für den Schutz meines Geländes einen Schäferhund anschaffen, dessen Kosten ich selbstverständlich übernehme.“
    
Wendelin blieb zunächst sprachlos. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Mit den Worten: „Sagen Sie mal nichts dazu, lassen Sie uns zuerst unsere Wildplatte genießen“ durchbrach Herr Kramolisch die entstandene Stille. Und als sie sich genüsslich über die verschiedenen Fleischstücke hermachten, kam Herr Seibel persönlich an den Tisch und fragte: „Schmeckt’s denn oder fehlt nach etwas?“ Daraufhin Herr Kramolisch: „Es schmeckt hervorragend und vor allem hier an dem runden Tisch, an den Sie uns so freundlich eingeladen haben“. Seibel versuchte keine Mine zu verziehen, was ihm aber nicht ganz gelang. Er trollte sich, ohne noch etwas zu erwidern.
 
Da stürzte es aus Wendelin förmlich heraus: „Natürlich nehme ich Ihr Angebot an. Das ist für mich wie ein Hauptgewinn in der Lotterie.“ Mit einem „das freut mich, lassen Sie uns darauf einen Williams trinken“ besiegelte Herr Kramolisch die mündliche Vereinbarung von seiner Seite. Dann besprachen sie die näheren Einzelheiten von Wendelins Umzug.  
 
Als sie schließlich gut gelaunt und mit leicht geröteten Gesichtern das Lokal verließen, verbeugte sich der Wirt Seibel noch einmal vor Herrn Kramolisch mit einem „Ich hoffe Dich bald wiederzusehen“, wobei er Wendelin ganz offensichtlich ignorierte. Dies konnte Kramolisch nicht so stehen lassen und erwiderte: „Aber nur, wenn Du Dich auf ein Wiedersehen mit Herrn Emmerich ebenfalls freust, und immer am runden Tisch, gell!“
 
Schon zwei Wochen nach Weihnachten kam ein kleiner LKW aus Hamburg und holte Wendelin und seine wenigen Habseligkeiten ab. Wendelin lebte sich schnell in Hamburg ein. Auch wenn er natürlich Schwierigkeiten mit der Sprache der dortigen Urbevölkerung hatte, freute er sich jeden Tag an seiner Aufgabe.
Nach einem weiteren Jahr vollendet er noch sein Glück, indem er sich mit der verwitweten Köchin des Hauses verband. Die Enge des kleinen Pförtnerhäuschens störte die beiden kaum. Sie brachte die Nähe, die sie schon lange gesucht und nun gefunden hatten.
   
*Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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